Manchmal fürchte ich mich vor mir selbst. Und vor meinen Lastern. Ich rauche nicht und trinke wenig, meine Sucht ist dort, wo niemand sie vermutet. Rabatt marken. Halten Sie mir eine Rabattmarke unter die Nase, treu ergeben werde ich Ihnen folgen. Vielleicht war ich in einem früheren Leben selbst eine Rabattmarke. Also ganz früher, noch vor dem Ameisen-Stadium. 

Man entwickelt sich nach spiritueller Lehre ja beständig weiter, insofern habe ich bereits die höchste für mich denkbare Stufe erreicht: Bin eine brauchbare Mutter und Momi, setze mich für die Schwachen der Gesellschaft ein, bin fleißig, verlässlich und meistens ehrlich. Und (Achtung, Trommelwirbel aus dem Off!): Ich bin die Herrscherin über hunderte, wenn nicht tausende Rabattmarken! Sollte ich später einmal vor dem Himmelstor um Einlass bitten, hätte ich Rabatt für alle im Gepäck. Ich sag’s nur mal vorbauend!

Marken, überall. Auf, unter, in meinem Schreibtisch, in jeder verfügbaren Tasche und Börse. Habe ich den Überblick verloren? Nur gelegentlich. Und immer dann, wenn ich versuche, mit meinen Marken, die ich dann, wenn ich sie brauche, nie zur Hand habe, redlich an meinen Rabatt zu gelangen. Z. B. beim Bäcker meines Vertrauens. 

„Kann ich die drei Semmeln eigentlich mit meinen Rabattmarken bezahlen?“ Bäcker: „Wie viele haben Sie denn?“ Ich, triumphierend mit einer Marken-Schlange wedelnd: „ Sehr viele, sehen Sie!“ Bäcker: „Hm, das sind die Marken einer anderen Bäckerei.“ Ich, hektisch kramend: „Moment, gleich!“ 

Moment, gleich! Einer meiner Lieblingssätze, mit „Moment gleich!“ kommt man souverän durchs Leben. Außer beim Bäcker mit den falschen Rabattmarken. Hinter mir stehen Menschen, die offenbar frei von materieller Gier sind, sonst würden sie ja auch Rabattmarken sammeln. Die wollen aber alle nur ganz normal zahlen. Sehr unspannend.

Die Kiefer dieser Menschen mahlen.Die Gespräche verstummen, die Blicke sind starr. Auf mich und die Marken in meiner Hand gerichtet. Eingefrorene Gesichter. Verzogene Mundregionen. Irgendwer zischt: „Das darf jetzt nicht wahr sein.“ 

Moment, Leute! Ruhe bewahren. Ich hatte doch die Marken vorhin noch in der Hand … „Das ist jetzt blöd“, sage ich, „ich hab offenbar die falschen Marken eingesteckt. Kann ich die richtigen nachbringen?“ Bäcker: „Sicher. Aber die Semmeln müssen Sie jetzt zahlen.“ Wir haben Montag, 7.52 Uhr morgens, da sollte Zeit für eine kleine Diskussion sein, finden Sie nicht? 

„Aber wenn ich verspreche, die Marken nachzubringen, und die falschen als Pfand bei Ihnen lasse?“ Die Warteschlange hinter mir blickt, blickt, blickt. Den Bäcker an. Mich an. Bei einem klingelt das Handy, er drückt die Nummer weg, verstehe ich, jetzt, wo es aufregend wird. Vor der Bäckerei hat sich eine Traube gebildet, die sensationslüsterne Menge drängt herein. Geraune im Hintergrund: „Tun S’ endlich weiter!“ Der Bäcker beharrt auf dem Semmelgeld, ich stecke die falschen Marken weg. Wer weiß, wen ich demnächst damit erfreuen kann?

Später am Tag treffe ich meine Enkelkinder. Zwei herausragend begabte Wesen, fünf entzückende Jahre alt. „Momi, wir haben eine Überraschung für dich!“ Ei, was kann das sein? Sie führen mich in den Garten, zu einem sorgsam mit Steinen abgesteckten Quadrat. In der Mitte sind Blütenblätter draufgestreut. „Ein Picknickplatz?“, frage ich. „Nein, das ist dein Grab!“, sagen die Kinder feierlich. „Ziemlich klein“, werfe ich mit dünner Stimme ein. „Wenn man tot ist, schrumpft man“, sagt der Knabe. „Und du wirst winzig klein!“, ergänzt das aufgeweckte Mädelein. „Wir kommen dich dann täglich gießen!“

Ja, was soll man darauf sagen? Außer: „Bitte gebt mir aber meine Marken mit!“ Damit das ewige Leben zumindest irgendeinen Sinn hat.

Herzlich, Ihre