Welche Lebensumstände tragen dazu bei, dass unbescholtene Frauen zu Verbrecherinnen werden? Autorin Anna Badora stellt in ihrem neuen Buch die Biografien von neun Frauen vor, die zu Schwerverbrecherinnen wurden und in Österreich und Deutschland inhaftiert sind. 

Wenn es gut läuft für eine Gefangene, wird aus „Wie konnte das passieren?“ ein „Wie konnte ich das tun und warum habe ich das getan?“ Sie hat dann die Verantwortung für ihre Straftat übernommen, den ersten Schritt in die erfolgreiche Resozialisierung getan. Denn jede Täterin wird wieder in die Freiheit zurückkehren, selbst die Mutter, die ihre behinderte Tochter umgebracht hat, oder die Kaufsüchtige, die ihren Gläubiger erstochen hat, selbst die Autofahrerin, die mit ihrem Freund auf der Motorhaube über die Autobahn raste. Auch für sie muss das Leben nach der Haft weitergehen.

Die polnisch-österreichische Regisseurin und Autorin Anna Badora hat in ihrem neuen Buch „Vom Stürzen und Wiederaufstehen“ intensive Blicke hinter Gitter gewagt und die Biografien von Schwerverbrecherinnen aufgezeichnet. Warum? „Weil mich Frauen mit besonderen Biografien interessieren, Frauen, die aus der Mitte der Gesellschaft kommen, teilweise gut situiert und privilegiert waren“, so die Autorin.
Genau darum geht es in diesem Buch: um Frauen in Gefängnissen, die falsche Entscheidungen getroffen haben, falsch abgebogen sind, den falschen Mann geheiratet und plötzlich ihr bisheriges Leben in Trümmern vorgefunden haben.

DIE ZEIT ALS GRÖSSTER FEIND. Barbara, eine der Gesprächspartnerinnen, die im Buch ihre Geschichte erzählen, in ihrer Zelle, JVA Willich II.

„Sie fährt los. Sieht noch durch die Scheibe ihren tobenden Partner, drückt aufs Gas.“

DER MANN AUF DER MOTORHAUBE 

Eni K., Justizvollzugsanstalt Willich II, Nordrhein-Westfalen

Das wutentbrannte Gesicht eines Mannes, seine Fäuste trommeln auf ihre Seitenscheibe, sie muss ihm entkommen. Sie gibt Gas, wechselt den Gang, aber sie bewegt sich keinen Meter vorwärts. Es wird nebelig im Auto. Sie sieht nichts, sie kann nicht atmen, der Rauch, woher kommt er? Jetzt rüttelt der Wagen heftig, dann kippt er um …

Sie schreckt aus dem Schlaf hoch. Aber der Albtraum geht weiter. Sie liegt auf der Pritsche in einer engen Gefängniszelle, wie in US-Fernsehserien. Eine Frau bläst ihr Zigarettenqualm ins Gesicht: „Hey du, wach auf! Wo hast du dein Geld versteckt? Oder hast du Wertsachen mit reingeschmuggelt? Du musst sie mir geben. Ich schwöre, sonst bringe ich dich um.“ Sie fuchtelt mit einer abgebrochenen Gabel vor Eni herum. Jetzt schluchzt sie, fleht: „Bitte, bitte, bitte! Meine Medikamente! Die muss ich bezahlen!“ Die beiden anderen Insassinnen schauen regungslos zu, rauchen, kommentieren alles in einer ihr unverständlichen Sprache. Eni hat zu Hause gelernt, den Menschen zu vertrauen. Nein zu sagen, wenn Menschen in Not sind, hat man ihr nicht beigebracht. Sie greift nach dem goldenen Kettchen an ihrem Fußknöchel, gibt es der Frau. Jetzt springen die beiden anderen interessiert auf … Es war kein Traum. Sie ist wach.

Diese Geschichte ihrer ersten Nacht im Gefängnis erzählt Eni Jahre später, als ich sie zu unserem ersten Interview in der Justizvollzugsanstalt Willich II in Nordrhein-Westfalen besuche.

Es ist der 27. Dezember 2019. An diesem Tag wollen Pawel und sie eigentlich eine Party veranstalten und ihre frisch renovierte Wohnung feiern, die sie mit eigenen Händen umgestaltet, modernisiert und verschönert haben. Die Party aber muss ausfallen. Die Wohnung ist doch nicht fertig geworden. Stattdessen fahren sie nach Köln, um Enis noch fehlende Dokumente persönlich in die Reha-Klinik zu bringen. „Dann sind wir noch auf dem Klinikgelände rumgelaufen, haben die Bowlingbahn angeguckt, das Schwimmbad. Alles wunderbar. ‚Wenn du mich am Wochenende besuchst oder mit den Kindern kommst‘, sagte ich zu Pawel, ‚dann wissen wir, wo wir hingehen können. Wunderbar. Alles klar.‘“

IM HOF. Im Hof der Strafvollzugsanstalt erinnert das bisschen Grün an das Leben „draußen“. 

HINTER VERSCHLOSSENEN TÜREN. Zellengang in der JVA Dinslaken (unten).

Beim Verlassen des Klinikgeländes werden sie von einigen Männern gegrüßt; ob es Reha-Patienten oder Besucher sind, weiß sie nicht. Sie winken ihnen freundlich zurück und gehen zum Auto. Eni will eigentlich direkt nach Hause, Pawel würde aber gerne noch etwas unternehmen. „Er bat mich, ins Handy zu gucken, ob es noch irgendwo einen Weihnachtsmarkt gibt“, erzählt sie, „er hörte von Düsseldorf.“ Sie ist skeptisch: „Ende Dezember?“ Aber laut Handy hat Pawel recht. Also fahren sie nach Düsseldorf.

Auf dem Markt trinken sie Glühwein. Unzählige Becher. Sie braucht sich ja nicht zurückzuhalten, Pawel würde wie immer das Steuer übernehmen. „Je mehr ich trinke, desto besser fahre ich“, zitiert sie seinen Lieblingsspruch. „Irgendwann sind wir auf der Autobahn, fahren nach Hause. Ich seufze: ‚Mensch, in zweieinhalb Wochen beginnt schon meine Reha. Ganz allein, ohne dich muss ich dahin.‘ Da kriegt er plötzlich einen Eifersuchtsanfall und rastet aus, rastet richtig aus, ras-tet so was von aus …“ Was Eni weiter beschreibt, wirkt wie ein Ausschnitt aus einem surrealen Film, mit überzeichneten, grellen Szenen, dazwischen Standbilder und Leerläufe: Neben ihr auf dem Fahrersitz scheint plötzlich Mr. Hyde zu sitzen. Sie sieht sein wutverzerrtes Gesicht, seine hasserfüllten Augen. Er schreit irgendwas von „diesen Typen von der Reha“, auf die sie „sicher scharf“ sei. Brüllend fährt er von der Autobahn ab auf einen Parkplatz, stellt den Motor aus, fordert sie auf, den Wagen zu verlassen. „Ich zeige dir, was man in Polen mit Weibern wie dir macht“, schreit er, steigt selbst aus, läuft zur Beifahrerseite, will sie aus dem Wagen zerren. Schnell drückt sie von innen die Zentralverriegelung herunter. Er beginnt, mit den Fäusten auf den Wagen zu hämmern, auf die Scheiben, auf das Dach. „Er hat mich wie bescheuert angeschrien, ich solle sofort rauskommen. Das kannst du nicht, dachte ich, er schlägt dich kaputt.“

„So habe ich gewartet, lange gewartet“, erzählt sie. „Er hat sich auf die Motorhaube gesetzt, geraucht. ‚Was machst du jetzt? Was machst du jetzt bloß?‘, habe ich gemurmelt, wie ein Gebet. Ich habe wieder gewartet. Ich kann heute nicht mehr einschätzen, wie lange. Wir hatten doch beide getrunken. Schließlich sprang er von der Motorhaube runter, lief wieder um das Auto rum, schlug wieder auf das Dach, auf die Scheiben. Mich packte plötzlich solche Angst, ich dachte, wenn er den Wagen aufkriegt, wenn die Scheiben brechen, komme ich nicht mehr lebend raus. Ich sah den Schlüssel stecken – meine einzige Chance. Bin dann rübergekrabbelt auf den Fahrersitz, hab das Auto gestartet. Hab ihn noch schreiend an der Seite gesehen und hab nur noch Gas gegeben. Durch den vielen Glühwein an dem Abend musste ich mich sehr konzentrieren; ich bin noch nie, nie alkoholisiert Auto gefahren. Zur Firma meines Ex-Mannes, wo ich arbeitete, gehörte doch ein Abschleppdienst. Für uns als ‚Partner‘ der Polizei wäre Alkohol hinterm Steuer undenkbar; ich hätte niemals meine Arbeitsstelle aufs Spiel gesetzt. Niemals. Aber in dem Moment bin ich losgefahren.“ Laut Eni passierte dann das Folgende: Sie fährt los, sieht noch durch die Scheibe ihren tobenden Partner, drückt aufs Gas … und dann weiß sie nichts mehr. Blackout, Filmriss. 

MORD EINER LIEBENDEN MUTTER

Margit R., Justizvollzugsanstalt Willich II,  Nordrhein-Westfalen 

„Hier unterschreiben“, deutet Peter mit dem Finger auf die Stelle, wo seine Ehefrau ihre Unterschrift hinsetzen soll, „dann kann ich unsere beiden Motorräder verkaufen und mir dafür diese Wahnsinns-Ducati holen. Einmaliges Angebot! 100 PS! Und was für ein Sound!“ Während Margit ihn fassungslos anschaut, imitiert er das tiefe Brummen des Motorrads. Diese Szene findet in der Justizvollzugsanstalt Willich II in Nordrhein-Westfalen statt, im Besuchertrakt. Zum ersten Mal besucht Peter seine Frau im Gefängnis, nachdem sie zu lebenslanger Strafe für ihren „vorsätzlichen, heimtückischen Mord“, wie es im Gerichtsurteil heißt, verurteilt wurde. Sie bestreitet die Tat nicht. 
Es war vor zwölf Jahren. Lange blieben die Menschen in ihrer kleinen nordrhein-westfälischen Stadt schockiert. Wie ist es möglich, rätselten sie, dass eine angesehene Bürgerin aus der Mitte der Gesellschaft, eine liebevolle Mutter, ausgebildete Erzieherin und immer hilfsbereite Nachbarin ein solches Verbrechen begehen konnte? Auch sie selbst versteht es bis heute nicht. Fast manisch schildert sie die letzten Wochen, Tage, Stunden und Minuten vor dem Mord. Ist es ein Versuch, ihre unfassbare Tat für sich selbst zumindest ein wenig fassbarer zu machen? 

Ihre Tochter Frieda wird geboren, als ihr Mann gerade auf seinem Lehrgang ist, 150 Kilometer von zu Hause entfernt. Er versucht zwar, zum berechneten Geburtstermin da zu sein, nimmt dafür Urlaub, aber das Baby lässt sich Zeit und kommt zwei Tage später zur Welt, nachdem er bereits wieder abgereist ist. Margit ist überglücklich. Sie ahnt noch nicht, was für eine gewaltige Herausforderung mit der Geburt ihrer Tochter auf sie, ihre kleine Familie und ihre Ehe zukommt. Sie hat massive Sprachprobleme. Sie benutzt mit drei Jahren immer noch keine verständlichen Wörter, redet in einer wirren Kunstsprache. Margit konsultiert Sprachtherapeuten, macht nach deren Anweisungen sprachaktivierende Übungen mit ihr. Sie kündigt ihre Jobs und widmet sich vollständig der Betreuung ihrer Tochter.
Frieda wird zu ihrem Lebensinhalt. Drei Jahre nach ihrer Tochter bekommt sie einen Sohn. Er ist gesund, entwickelt sich normal; sie betreut ihn „nebenbei“ und widmet weiterhin die meiste Zeit ihrem „Problemkind“. Sie macht das alles mit sich selber aus. 

WERKSTATT. Die Schneiderwerkstatt in der JVA Willich II.

HINTER GITTERN. Schatten der Lichtgitter auf dem Boden. Tageslicht gibt es im Gefängnis nur in reduzierten Dosen. „Meine Besuche in den Strafanstalten waren persönlich sehr beklemmend“, sagt Autorin Anna Badora im look!-Interview.

Mit ihrem Mann kann sie die Verantwortung für Frieda nicht teilen; er ist viel zu selten zu Hause. Um ihrer Tochter besser helfen zu können, absolviert sie eine Kinderpflegerinnen-Ausbildung und bekommt im früheren heilpädagogischen Kindergarten ihrer Tochter eine Anstellung.
Dann kommt der Tag, der ihr endgültig jegliche Hoffnung auf eine mögliche „Genesung“ Friedas nimmt. Ihre Tochter leidet an einer Chromosomen-Anomalie, keine Heilungschance, keine Hoffnung auf größere Entwicklungsfortschritte. Die Familie muss sich mit dem Zustand ihres Kindes arrangieren. Die familiären Auseinandersetzungen um Frieda werden immer häufiger, heftiger. Das behinderte Mädchen braucht täglich Aufregung; es provoziert, schimpft, wird aggressiv. Frieda erzählt in ihrer Werkstatt, dass sie von ihrem Vater und Bruder geschlagen werde. VertreterInnen des Jugendamts erscheinen zu Hause, sprechen mit den Familienmitgliedern und stellen fest: Das Kind hat die Misshandlungen erfunden. 

Es ist der letzte Abend vor dem Mord. Zwischen Mutter und Tochter gibt es wieder mal Streit. Frieda will die Einladungen für ihren Geburtstag, der noch einige Monate entfernt ist, unbedingt sofort schreiben, nicht, wie verabredet, nach dem anstehenden Familienurlaub. Sie verbeißt sich in ihre Idee, argumentiert, droht, schreit, gibt nicht nach. Erst kurz nach Mitternacht gehen beide erschöpft ins Bett. Davor nimmt Margit Medikamente, alle auf einmal: Katadolon und Tetrazepam, die später beide wegen schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen werden.

Sie denkt an ihren Onkel Kurt, der die Hände der kleinen Margit zur eigenen Befriedigung missbrauchte, immer wieder, jahrelang. Ihre alte Angst kommt wieder hoch, dass ihrer behinderten Tochter etwas Ähnliches passieren könnte. Sie setzt sich in die Küche, hört sich selbst sprechen: „Bitte, bitte, bitte Frieda, sei du jetzt ruhig, sei bloß ruhig!“ Gegen 6:00 Uhr kommt ihre Tochter zum Frühstück, knüpft sofort wieder da an, wo sie um Mitternacht aufgehört haben. Margit hört sich immer wieder sagen: „Hör auf, bitte, bitte, hör auf, sei endlich still.“ Doch Frieda bohrt weiter. Margit geht zur Kommode, nimmt Klebeband, Schere und einen großen Plastikbeutel heraus, schlägt ihrer Tochter vor, für ihren Geburtstag ein „Piratenspiel“ zu proben. Das findet diese prima. 

BEKLEMMEND. Das Besucherfenster führt in den Raum für „gesonderte“ Insassinnen.

FESTE ORDNUNG. Toilettenartikel, Besteck, Handtuch und Bettzeug als „Welcome-Package“ für die Insassinnen (oben).

Sie gehen gemeinsam in den Keller. Was dann passiert, wird später im Gerichtsurteil so beschrieben: „Die Angeklagte verbindet mit einem Paket-Klebeband die hinter dem Rücken gekreuzten Hände ihrer Tochter. Das arglose Tatopfer setzt sich dann auf den Boden und lässt sich seine Füße, ebenfalls über Kreuz, fesseln. (…) Sodann erklärte die Angeklagte ihrer Tochter, dass sie nun eine ‚Mütze‘ für das ‚Piratenspiel‘ aufsetzen müsse. Hierfür verwendete die Angeklagte die mitgebrachte 5-Liter-Mülltüte. Frieda sagte: ‚Mütze nicht!‘ Die Angeklagte antwortete: ‚Mütze muss!‘ Sodann zog sie ihrer Tochter, die sich aufgrund der Fesselung nicht wehren konnte, die Mülltüte über den Kopf und verschloss diese luftdicht am Hals, mithilfe des Paket-Klebebandes. Sie verließ den Raum.“ 20 Minuten später kommt Margit zurück. Frieda liegt bewegungslos auf dem Bauch. 

Vor Gericht wird Margit in vollem Umfang für schuldfähig erklärt; die Tat wird als kaltblütig eingestuft. Sie bekommt lebenslänglich. Sie hofft, ihre Tat endlich zu verstehen, für die sie bis heute, anders als ihre Richter, keine Erklärung findet. Das heißt in der Praxis meistens 15 Jahre bei guter Führung.

DAILY LIFE. Kati, eine der Interview-partnerinnen von Anna Badora, in ihrer Zelle, JVA Willich II.

Beitragsbilder: © Thomas Finkenstaedt