„Ich bin ein pathologischer Optimist“

Mit Andrej Kurkow kommt im November der bekannteste ukrainische Schriftsteller zur Gratisbuchaktion „Eine STADT. Ein BUCH.“ nach Wien. Wir trafen den Autor vorab in Paris.


Andrej Kurkow wurde 1961 in St. Petersburg geboren, lebt aber seit seiner Kindheit in Kiew, wo er Fremdsprachen studierte und Drehbücher verfasste. 2000 wurde sein ebenso abgründiger wie humorvoller Roman über einen Schriftsteller und Tagträumer und seinen Pinguin Mischa „Picknick auf dem Eis“ zum internationalen Bestseller. Kurkow spricht mehr als sieben Fremdsprachen – darunter auch sehr gut Deutsch – schreibt aber seine Romane in seiner Muttersprache Russisch. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist Andrej Kurkow viel unterwegs, um international die Situation in der Ukraine zu erklären – bis Dezember 2022 war er auch Präsident des ukrainischen PEN. Wir trafen Kurkow im Juni in einem Pariser Café.

Herr Kurkow, wie geht es Ihrer Familie im Krieg?

Uns geht es besser als den Menschen, die an der Front kämpfen. Im Jänner/Februar gab es wieder viele Tote in Kiew. Aber Kiew hat eine bessere Luftverteidigung als andere Städte, Sirenen hören wir aber andauernd. Die Menschen sind dementsprechend müde und traumatisiert – aber das Leben in Kiew ist ansonsten normal, die Cafés haben offen und die Theater sind voll. Das hat mich schon 2014 bei der Annexion der Krim durch Russland gewundert – aber das Theater ist einfach ein Ort, um die Realität auszublenden. 

Ihre Ehefrau ist Engländerin – Sie hätten ja problemlos nach England gehen können?

Ich wollte nicht, denn wir lieben Kiew. Wir leben im Stadtkern, ganz in der Nähe der Sophienkathedrale. Das ist nicht ganz ungefährlich, denn 200 Meter von uns befinden sich das Hauptquartier des Geheimdienstes sowie andere Regierungsgebäude – das sind sicher Ziele russischer Raketen, aber dafür haben wir auch eine sicherere Stromversorgung. 

„Picknick auf dem Eis“ wurde erst durch die deutsche Übersetzung zum Erfolg. Wie kam es dazu?

In der Sowjetunion wollte man meine Bücher nicht veröffentlichen. Vielleicht habe ich die größte Sammlung an Absagen, die je ein Autor hatte. „Picknick auf dem Eis“ kam aber 1996 in der Ukraine heraus. Ich schickte dann 40 Briefe an Verlage im Westen und erhielt wieder viele Absagen. Der Diogenes Verlag in Zürich hat aber sofort gebeten, den kompletten Roman zu schicken. Zwei Wochen später übermittelten sie mir per Fax einen Vertrag und ich wurde von Daniel Keel eingeladen, nach Zürich zu kommen. 

Zur Entstehung des Romans: Welche Idee war zuerst da, der Pinguin oder der erfolglose Schriftsteller, der Nachrufe schreibt?

Ich wollte ursprünglich zwei Romane schreiben. Einen über einen einsamen Mann, der einen Pinguin aus dem Zoo aufnimmt und einen über einen Journalisten, der Nekrologe schreibt. Dann habe ich aber gemerkt, dass beide Ideen sehr gut zusammenpassen.

Warum gerade ein Pinguin?

Es gibt einen Witz, den ich auch heute noch liebe. Der geht so: Ein Polizeichef fährt in seinem Lada und sieht einen Polizisten, der mit einem Pinguin spazieren geht. Er fragt diesen: ‚Was machen Sie mit diesem Pinguin? Gehen Sie sofort mit ihm in den Zoo.‘ Vier Stunden später sieht der Polizeichef wieder den Polizisten mit dem Pinguin, er ist wütend und fragt: ‚Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie mit ihm in den Zoo gehen sollen?‘ Der Polizist antwortet: ‚Ja, wir waren schon im Zoo und wir waren schon im Café. Jetzt gehen wir in den Zirkus.‘

Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum ich einen Pinguin eingebaut habe. Pinguine sind für mich sowjetische Tiere, sie leben im Kollektiv. Ukrainer hingegen sind sehr individualistisch eingestellt. So hatte ich einen einsamen postsowjetischen, ukrainischen Mann und einen einsamen Pinguin – also zwei unnatürliche Einsamkeiten.

„Ich finde, es ist wichtig, Hoffnung
zuzulassen und sogar ein Happy End. Aus jedem Buch strömt Energie vom Autor zum Leser.“

Warum, glauben Sie, sind Ihre Bücher gerade in der deutschsprachigen Welt so erfolgreich?

Vielleicht wegen meines schwarzen Humors. In der deutschen Literatur gibt es nicht so viel Humor. Und als „Picknick auf dem Eis“ erschien, gab es fast nur postsowjetische Romane, die sehr düster und hoffnungslos waren. Ich war von meinem Naturell her aber immer schon ein pathologischer Optimist – ich finde, es ist wichtig, Hoffnung zuzulassen und sogar ein Happy End. Aus jedem Buch strömt Energie vom Autor zum Leser – ich will aber keine negative Energie schicken, die meine Leser traurig macht.

Ist das etwas typisch Ukrainisches?

Nicht unbedingt, aber Humor war bei uns immer wichtiger als in Russland. In Russland gibt es viel Satire, aber keinen Humor – in der Ukraine keine Satire, aber viel Humor. Humor ist eine Waffe, um in schwierigen Situationen zu überleben. 

Wie ist heute die Stimmung in der Ukraine?

Fast 8 Millionen Ukrainer sind im Ausland, etwa 7 Millionen in besetzten Gebieten und 1 Million sind an der Front. Die Bevölkerung ist müde, die Hoffnung auf eine schnelle Rückeroberung der besetzten Gebiete hat sich zerschlagen, aber die Menschen sind trotzdem nicht hoffnungslos. Für Russen ist Stabilität wichtiger als Freiheit und für Ukrainer ist Freiheit wichtiger als Stabilität. In der Ukraine gab es niemals eine Königsfamilie, ihre Führer wurden immer gewählt.

Sie waren schon oft in Wien. Was gefällt Ihnen hier?

Ganz viel. Etwa die Kellergasse in Stammersdorf, Wiener Schnitzel – also auch die Klischees. Mir gefällt aber auch das Leben hier, die Kabaretts. Mein älterer Sohn Theo war einmal drei Monate in Wien und hat hier Deutsch gelernt – da sind wir auch oft ins Kabarett gegangen. Besonders liebe ich Georg Kreisler (singt: „Wie schön wäre Wien ohne Wiener“). Mein Sohn macht jetzt Workshops für Waisenkinder.

ANDREJ KURKOW: PICKNICK AUF DEM EIS wird ab 19. November gratis in Büchereien, Buchhandlungen, an der VHS und bei vielen Partnern der Aktion abgegeben.

EINE STADT. EIN BUCH. Zur Aktion gehört eine große Gala im Wiener Rathaus – im Bild mit Elke Heidenreich 2022.

Beitragsbilder: © Bubu Dujmic / Stefan Burghart