VERENA BOOS: Die Taucherin

Eine wunderbare Sommerlektüre über die Beziehung zweier Frauen, Amalia und Marina, in Valencia, der faszinierenden Metropole am Meer. Erhalte einen exklusiven Blick ins neue Buch mit look!.

Sie massierte ihre Zehen, die in den streng geschnürten Kletterschuhen gesteckt hatten, und spürte die Unebenheit des Gesteins. Die Wärme, die es abstrahlte, am Ende des ersten wirklich warmen Tags in diesem kalten Frühling. Anfang der Woche war noch ein Unwetter über den Schwarzwald gezogen. Der Regen hatte jene Magnolienblüten, die nicht in einer späten Frostnacht erfroren waren, vom Baum geschlagen. Sie gab sich in diese einzigartige Klettermüdigkeit hinein. Mehrere Stunden selbst gesichert, ohne Partner, hatte sie in den Knochen stecken und kaum bemerkt, wie der Nachmittag verstrichen war. Klettern schenkte ihr Ruhe vor sich selbst. Der Radius der Aufmerksamkeit nicht wie ein Radar, sondern eng wie ein Brennglas, konzentriert auf eine einzige Aktivität, die sie so forderte und durchdrang, dass alle Erinnerungen, Gedanken, Kümmernisse von ihr abrückten. Erinnern war gefährlich geworden, nicht Reichtum und Ressource, sondern Bedrohung. Diese überschießende, kreisende Unruhe hielt sie nachts wach. Das Anbranden der Gedanken, die sie vergebens weit draußen zu brechen versuchte. In ihrem Kopf war immer Flut, nie Ebbe. Nicht reichen. Nicht gut genug sein. Für zu leicht befunden. Im Klettern fand sie Gegenleichtigkeit. Und wusste dabei so deutlich wie in keiner anderen Tätigkeit, dass sie Körper war. Von der Reibung auf dem rauen Fels waren ihre Handteller gerötet, die Fingerkuppen prall durchblutet, heiß und dunkelrot wie Weintrauben, die Haut robust und verletzlich zugleich. Das Muskelspiel ihrer Unterarme und zerschrammten Hände zu betrachten, weckte in ihr ein zärtliches Gefühl für den eigenen Leib. Hinter ihren nackten Füßen stürzte der Kandelfels in seinen eigenen Abgrund. Amalia blickte in die Tiefe, wo die abgebrochene Teufelskanzel als Geröllfeld ausgebreitet lag, und genoss den lockenden Sog.

Der Kandel lief nach Waldkirch hin in einem Dreieck aus, gefurcht und aufgefältelt wie ein Tannenzapfen, begrenzt im Nordwesten vom Elztal, im Süden vom Glottertal. Nachdem die Rheinebene den Nachmittag über im Dunst gelegen hatte, mit dem Kaiserstuhl gleich einer Hallig, war die Luft inzwischen aufgeklart. Der Steigwind strich über ihre Haut. In der abendlichen Thermik kreuzten Gleitschirmflieger. Über dem Elsass ging die Sonne unter. Sie beleuchtete die Vogesen von hinten und schnitt sie zu einer scharfen, beinah schwarzen Kontur. Diese Zwillingsgebirge, Vogesen und Schwarzwald, wie zwei Schwestern einander gegenüber hockend, in ihrer Mitte der Rhein, den erst Menschen zur Grenze gemacht hatten. Euphorisch und erschöpft gab sie sich, immer wieder neu, der Bannkraft dieser Szenerie hin: das dunkle Band der nahfernen Berge und der flammende Himmel. Sie ließ mit dem Licht auch das Empfinden für diese Landschaft einströmen. Das Glottertal war bergend wie die Schalen zweier Hände. Die Nordseite steil aufragend, mit Weinbergen und dichten Wäldern, die Südseite offener, mit einem weniger klar gezeichneten Kammverlauf. Sie kletterte gern allein, wie sie auch gern allein durch diese Wälder streifte und manchmal in deren Schutz übernachtete. Sie kannte die Wege alle. Im Dunkeln, bei Nebel oder Schnee fand sie sich instinktiv zurecht. Mehr eine Erinnerung des Körpers als ein Wissen des Verstands. Die Landschaft konnte nichts dafür, dass sie sich gefangen und ausgestoßen zugleich fühlte. Sie legte sich auf den Stein und spürte seine Kanten unter ihren Schulterblättern. Ihr Brustkorb weitete sich. Sie massierte sich zwischen den Schlüsselbeinen und den oberen Rippenbögen. Sie spürte die Anspannung und auch, wie diese nachließ. Folgte bereitwillig der Welle der Erschöpfung, die ihre Glieder flutete wie das Meer einen Strand.

Sie war zurück im Glottertal, wieder daheim bei Mama. Sie hatte alle Möbel verramscht. Der Küchenschrank aus den Zwanzigern, an dem ihr Herz hing, die Bücherkisten und die Winterausrüstung lagerten in einem Depot. Das Camping-Equipment im Auto. Ein Koffer mit Klamotten im alten Kinderzimmer. Reif für die Insel. Marina zu fragen, ob sie vorübergehend nach Valencia kommen konnte, hatte sie nicht gewagt. Nicht nach der letzten Begegnung vor zwei Monaten. Amalia hatte keine Worte für das, was gerade zwischen ihr und Marina stand. Oder abgerissen sein mochte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es mit einem Mehr oder einem Weniger zu tun hatte. Der ominösen Anwesenheit von etwas oder einem unklaren Verlust. Sie hatte Marina noch nicht Bescheid gegeben. Sie hatte überhaupt noch mit niemandem geredet, nicht darüber, dass sie die sicher geglaubte Stelle in Valencia nun doch nicht bekommen sollte, und auch nicht über alles andere. Würde sie wieder als Wanderführerin auf Teneriffa anheuern, Reisegruppen in Valencia betreuen oder durchs spanische Hinterland begleiten? Das hatte sie längst hinter sich gelassen. Ihre Hand wanderte schon zum Telefon in ihrer Trikottasche, doch sie stoppte in der Bewegung. Nicht den Zauber dieser Abendstimmung zerstören. Nicht die Kletterentspannung rückabwickeln, indem sie ihr Scheitern an die Oberfläche holte.

»Kommst eh nicht drumrum«, murmelte sie sich zu, was sie längst wusste. Sie presste die Handballen in die Augenhöhlen, bis es schmerzte. Eine Art Schuldgefühl wanderte durch ihre Zellen, und sie verstand nicht recht, warum eigentlich sie sich Marina gegenüber schuldig fühlte. Geplatzt war doch nicht deren Traum. Zumal ja offen geblieben war, ob Marina sich gleichermaßen gefreut hätte über Amalias Rückkehr nach Valencia.

Im März hatten sie sich zuletzt gesehen. Der Besuch hatte eine Veränderung markiert, der Amalia bisher nicht auf die Schliche kommen konnte.

Mit sechs Jahren hatten sie das erste Mal gemeinsam Fallas erlebt. Seither hatte Amalia häufig das Valencianer Frühlings- fest für Besuche genutzt, Besuche bei dieser Freundin, die ihr näherstand als die eigene Schwester, und in dieser Stadt, die sie als zweite Heimat empfand und auch manchmal als die eigentliche. Sie hatte sie sich zu eigen gemacht, auch wenn sie nur sporadisch hier gelebt hatte. Sie war immer wieder durch diese Straßen gewandert, jedes Mal vertrauter und stets aufs Neue, sie hatte die Bräuche kennengelernt und sie anderen nahegebracht. Sie wandelte sich, wenn sie dort war, manchmal dachte sie: eine Version näher an sich selbst. Sie sprach Spanisch so gut, dass sie fast nur ihr nordisches Aussehen als Guiri verriet. Sie war an einem Freitag gelandet. Vom Flughafen nahm sie die Metro in die Stadt, so wie immer in den letzten Jahren, und wie immer war an Fallas alles voller als üblich, als hätte es nie ein Virus gegeben. Während sie in der Metro an einer Haltestange lehnte, folgte sie gedanklich den Gebäuden und Sehenswürdigkeiten, die sie gerade unterquerte. Ihr Wissen um die Topografie entknitterte sich. Xativa, darüber die Estación del Norte, der alte Bahnhof mit seiner schönen Halle, mit der Holzvertäfelung, den alten Schalterkabinen und farbenfrohen Jugendstilkeramiken. Die Stierkampfarena. Die großen Warenhäuser und Einkaufsketten entlang der Calle Colón.

Verena Boos

Geboren 1977 in Rottweil, wo sie auch aufwuchs und seit 2010 als freie Autorin lebt, verbrachte sie längere Aufenthalte in Paris, Bologna, Glasgow, Florenz, Barcelona und London, schließlich Valencia, München und Frankfurt. Sie studierte Angloamerikanische Literatur, Soziologie und Kulturwissenschaften. Ihr Debütroman „Blutorangen“ wurde u. a. mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet.

DIE TAUCHERIN.

Roman von Verena Boos, gebunden, 288 S, Kanon Verlag, € 24,–.

Beitragsbilder: © Elke Reichenbach