DIE WELT IST IM UMBRUCH, DAS IST DAS NEUE NORMAL. SAGT DR. ERIKA FREEMAN, DIE ALS KIND AUS WIEN VERTRIEBENE NEW YORKER PSYCHOANALYTIKERIN. IN DIE STADT, DIE SIE ALS ZWÖLFJÄHRIGE VERLASSEN MUSSTE, KEHRTE SIE VOR VIER JAHREN ZURÜCK. UND SIE BLIEB.
„Frau Dr. Freeman, Sie werden im Café erwartet!“ Die nette Dame an der Rezeption des Hotel Imperial ist es genauso wie ihre Kolleg:innen gewohnt, als Assistenz zu fungieren und Mrs. Freeman zu verständigen, wenn deren Typ gefragt ist. Und das ist häufig der Fall. Journalist:innen und Kamerateams pilgern von weit her in das Ringstraßen-Hotel, in dem die Grande Dame mit der mädchenhaften Ausstrahlung vor über vier Jahren Quartier bezogen hat. Bei einem Wienbesuch und nach einer Herzoperation wurde sie vom ersten Covid-Lockdown überrascht und darauf zum Dauergast in jenem Haus, das auch Adolf Hitler bei seinen Wienaufenthalten frequentierte. „Meine Rache an Hitler“ nennt Erika Freeman dieses Paradoxon und wie immer funkeln ihre Augen recht fröhlich, beim Aussprechen subtiler Witze. Dass sie als Jüdin im selben Hotel wie seinerzeit der braune Diktator absteigen kann, empfindet sie als ihren Triumph über das Böse. Als ihr der Bürgermeister vor zwei Jahren das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst überreichte, sorgte sie mit dem Spruch „ They tried to kill me, now they decorate me!“ für betroffenes Amüsement. Erika Freeman kennt keinen Stillstand. Sie arbeitet. An sich, an anderen, an der allgemeinen Weltlage, die sie beschäftigt: „Gut möglich, dass der nächste amerikanische Präsident wieder Donald Trump heißt, er ist so ein Schauspieler“, erzählt sie beim Mittagessen. „Leider fallen die Menschen auf die Schauspieler immer herein.“ Für eine Frau als Präsidentin sei die Zeit überreif, meint sie, Hillary hätte das Zeug dazu gehabt, aber vielleicht seien die Menschen für eine Präsidentin noch nicht reif: „Frauen haben das Recht, Recht zu haben – aber leider noch nicht überall.“ Zu unserem Gespräch bringt sie – wie immer – eines ihrer kleinen Notizbücher mit, in denen sie pausenlos notiert, was ihr gerade zum Leben einfällt.
IM GESPRÄCH. Mit der Autorin dieser Geschichte ist Erika Freeman befreundet. Ihre in kleinen Notizbüchern festgehaltenen Aphorismen und Gedanken erscheinen 2024 als Buch bei echomedia.
„Der Vorteil in meinem ALTer ist, dass ich niemanden mehr sehen muSS, den ich nicht sehen will. Sehr praktisch.„
Erika Freeman
look!: Erika, was hast du heute schon Gescheites geschrieben? Magst du mir etwas aus deinem Büchlein vorlesen?
Erika Freeman: Ob es gescheit ist, weiß ich nicht, aber ich lese es dir trotzdem vor: „Muss es wehtun, um gutzutun?“ Oder „When some people try to make life easier, they only make it more complicated.“ (Lacht.) Genauso ist es doch, oder? Warte, hier steht: „Life is easier, when you do not try too hard.“ Das gefällt mir! (Lacht.)
Ich werde mir diese Aphorismen mehr zu Herzen nehmen, im Grunde sind deine niedergeschriebenen Gedanken ein Aufruf zu mehr Leichtigkeit …
Erika Freeman: Absolutely! Das Schwere im Leben ist schon schwer genug, also machen wir es uns doch ein bisschen leichter. Schau, ich lebe in einem schönen Hotel und ich freue mich, wenn ich dich sehe! Also geht’s mir gut. Und wenn nicht heute, dann morgen. (Lacht.) Und der Vorteil in meinem Alter ist, dass ich niemanden sehen muss, den ich nicht sehen will.“
Dieser Spruch „Wenn nicht heute, dann morgen“ ist zu deinem Markenzeichen geworden. Stammt der eigentlich von dir, oder hat das deine Mutter oder Großmutter auch schon gesagt?
Erika Freeman: Alles, was ich sage, stammt von mir. Meine Mutti hat viel gescheitere Sachen gesagt, vor allem aber hat sie sich niemals beschwert. Und sie hat keine Angst gehabt, vor niemandem. In der Kristallnacht (9.11.38, Anmerkung der Redaktion) waren wir zu Besuch bei meiner Tante, wir haben den Lärm gehört, als die Nazis in den Wohnungen der Juden das Geschirr zerschlagen haben. Und sie hämmerten an die Türe meiner Tante. Da sagte meine Mutti: „Komm, wir gehen spazieren!“ Sie nahm mich an der Hand und wir gingen die Ausstellungsstraße entlang, an den Männern vorbei, durch den Lärm hindurch und ich habe an der Hand meiner Mutti gespürt, dass sie keine Angst hat. Angst macht dich dumm. Ich habe noch nie Angst gehabt, was ein großes Mazel ist. (Lacht.)
„Das Schwere im Leben ist schon schwer genug, also machen wir es uns doch ein bisschen leichter!„
Erika Freeman
HEIMGEKOMMEN. „Früher war Österreich sehr antisemitisch“, sagt Erika Freeman, „das fühle ich heute nicht. Aber wir müssen sehr aufpassen.“
„Zuerst haben sie versucht, MICH umzubringen, jetzt zeichnen sie mich aus.“
Erika Freeman
Viele Menschen suchen deinen Rat, weil sie deine Geschichte so faszinierend finden. Findest du es eigentlich anstrengend, dass jeder alles über dich und von dir wissen möchte?
Überhaupt nicht. Ich mag die Menschen. Und ich weiß jetzt ja mehr als früher, also warum sollte ich aufhören, andere zu beraten? Ein Leben soll einen Sinn haben und die Welt verbessern, für die Juden heißt das „Tikun Olam“ (die Reparatur der Welt, aus dem Hebräischen). Aber ich kann nicht jedem helfen. Manche lassen sich auch nicht gerne helfen. (Lacht.)
Du rätst zum Beispiel, sich über die Zukunft keine Sorgen zu machen. Das fällt in Zeiten wie diesen vielen schwer.
Sorgen helfen gar nicht, Sorgen sind ein großer Blödsinn. Wenn man sich Sorgen macht, erwartet man etwas Schlechtes und dadurch wird alles noch schlimmer. Eine Sorge ist schlecht und wird schlecht bleiben. Es zahlt sich immer aus, über die Zukunft nachzudenken und sich etwas zu wünschen. Eine Sorge macht dich nicht gescheiter, sie macht dich nur ängstlich. Ein guter Gedanke jedoch hilft dir. Eine Sorge ist eine geschlossene Tür, die lässt sich nicht öffnen. Weißt du, es gibt Menschen, die sagen: „Du verstehst nichts, weil du dir keine Sorgen machst!“ Aber nein! Es ist umgekehrt! Du bist gescheit, wenn du dir keine Sorgen machst. Die Sorge stiehlt dir deine Intelligenz und deine Zukunft. Sie macht dich blöd, so wie die Angst.
Hast du dir nie Sorgen gemacht, auch nicht, als du aus deiner behüteten Kindheit in Wien gerissen wurdest? Du warst zwölf Jahre alt, als du dich am Westbahnhof von deiner Mutter verabschiedet hast.
Nein, weil ich nicht gewusst habe, worüber ich mir Sorgen machen sollte. Ich habe immer nur an morgen gedacht: „Was wird morgen sein und was muss ich tun?“ Und ich habe ja schon gewusst, was die Nazis tun werden. Das waren keine Sorgen, das war eine Gegebenheit. Ich habe daran gedacht, wie man das lösen kann. Als ich mich von meiner Mutti verabschiedet habe, ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich vielleicht nie wieder glücklich werde. Da habe ich eine Tür zugemacht. Ich sagte Auf Wiedersehen, aber ich weinte nicht. Ich musste das Beste daraus machen, damit meine Mutti stolz auf mich sein konnte. Ich wusste, dass ich sie glücklich machen konnte, dadurch, wie ich mich verhielt.
„Sorgen machen dich nicht gescheiter, sie machen dich nur ängstlich. Ein guter Gedanke jedoch hilft dir.„
Erika Freeman
EIN BISSERL SPÄT! 2017 erhielt Erika Freeman das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, 2022 wurde ihr durch Bürgermeister Michael Ludwig die österreichische Staatsbürgerschaft überreicht, was sie mit den launigen Worten „Ein bisserl spät!“ kommentierte. Im Februar 2024 wurde ihr die Ehrenbürgerin-Urkunde der Stadt Wien verliehen. Mit Marlon Brando war sie gut bekannt, ob er auch ihr Patient war, bleibt ihr Geheimnis.
Du wolltest eigentlich nach Palästina, aber auf deiner Ausreisegenehmigung stand kein Name. Dann bist du über Umwege in die USA gereist …
Wo ich eigentlich nie hin wollte und wo man mich auch nicht wollte. (Lächelt.) Die Verwandten, die mich aufgenommen haben, konnten nichts mit mir anfangen. Ich habe jeden Tag zu Hause Englisch gelernt, bin nur vor meinen Büchern gesessen und meine Verwandten wollten, dass ich rausgehe, und mit den Kindern auf der Straße spiele. Can you imagine? Ich war ein wohlerzogenes Mädchen aus Wien, da traf man sich doch nicht mit den Buben auf der Straße zum Spielen! Warum hätte ich in New York auf die Straße gehen sollen, das hätte meiner Mutti nicht gefallen. Ich wollte immer tapfer sein, um ihr eine Freude zu machen. (Zeigt hinauf.) Ich wollte ein selbstständiges Kind sein, auch als ich noch in Wien war. Meine Mutter ist jeden Abend zur Auswanderungsstelle gegangen, um eine Nummer zu bekommen, in der Nacht war ich oft alleine, weil sie sich dort lange anstellen musste. Eine Frau hat sie einmal gefragt: „Wie geht es deiner Tochter? Weint sie viel?“ Und meine Mutti hat gesagt: „Sie ist brav, sie liest und sie schläft alleine ein.“ Ich war ein braves Kind, dafür bin ich dankbar, denn sie hat es schwer genug gehabt. Als ich im Zug gesessen bin und später auf dem Schiff nach Amerika, wusste ich nicht, dass ich sie nie wiedersehen würde.
Kannst du dich noch an deine Ankunft in New York erinnern? Du hattest ja entfernte Verwandte dort …
Ich weiß, dass ich die Freiheitsstatue nicht gesehen habe, ich kam in der Nacht mit dem Schiff an. Da war nur Dunkelheit. Ein Onkel mütterlicherseits holte mich ab, der hatte nur ein winziges Zimmer, da konnte ich nicht bleiben. Andere entfernte Verwandte haben mich dann aufgenommen. Meine Verwandten in New York waren Arbeiter, meine Eltern waren Intellektuelle, das hat nicht funktioniert. Ich habe gespürt, die wollen mich lieber loswerden. (Lacht.) Ich wurde also in ein Internat geschickt, für Kinder aus schwierigen Familien. Die Kinder hatten aber Eltern, und ich habe mir so oft gedacht, warum sind alle diese Kinder nicht bei ihren Eltern? Wie kann das sein, dass Eltern ihre Kinder nicht bei sich haben wollen? Aber es war schön dort, wir wohnten in einem kleinen Cottage im Grünen, und ich war gut in der Schule. Ich hatte meiner Mutti ja versprochen, ein braves, fleißiges Kind zu sein.
„Ich wollte immer tapfer sein, um meiner Mutter eine Freude zu machen. Ich war ein braves Kind.„
Erika Freeman
AUSZEICHNUNG. Bei der look!-„Woman of the Year“-Gala wurde Erika Freeman mit dem „Lifetime Achievement“-Award für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Links im Bild mit Silvia Schneider und Danielle Spera.
Konntest du mit deiner Mutter Kontakt halten, während dieser Zeit?
Ich glaube, ich habe ihr selten geschrieben, ich hätte es schon können. Das beschäftigt mich auch. Ich habe diese Türe zugemacht. Später ist mir bewusst geworden, dass meine Mutti mich nicht loswerden wollte, sie hat das Beste getan, was sie konnte. Sie hat einmal an den Direktor des Internats geschrieben und gebeten, man solle mir sagen, dass ich mich melden soll. Der Brief, den ich ihr dann geschrieben habe, kam aber zurück, weil das Deutsche Reich keine Briefe aus den USA mehr angenommen hat. Nach dem Krieg erzählte mir meine Tante, dass sie, meine andere Tante und meine Mutti einmal auf der Straße gingen und meine andere Tante sagte: „Ich bin so müde, wir gehen jetzt zur Donau und machen Schluss mit allem.“ Und meine Mutti sagte: „Nein, wir warten ab, wie sich alles fügen wird. Wir machen nicht Schluss!“ Meine Mutti war eine sehr tapfere Frau.
Deine Mutter, die Denunzierung, Konzentrationslager und das jahrelange Leben als U-Boot in Wien überlebt hat, ist in den letzten Kriegswochen bei der Bombardierung des Philipphofs am Albertinaplatz ums Leben gekommen. Denkst du oft an sie?
Jeden Tag. Sie war außergewöhnlich, die erste Hebräisch-Lehrerin in Westeuropa. Sehr selbstständig, sie hat sich durchgesetzt und Hebräisch studiert, das war damals unvorstellbar. Und meine Großmutter war auch außergewöhnlich. Weißt du, die Grossmütter sind die wichtigsten Menschen für die Kinder! Weil sie die Liebe sind. Und das spüren die Kinder ganz genau. Die Mutter muss alles am Laufen halten. Die Großmutter muss nur lieben.
Bist du Psychoanalytikerin geworden, weil du schon als Kind viel Schweres erlebt hast?
Eigentlich wollte ich die Welt retten, also habe ich Internationale Beziehungen studiert. Durch meinen Job bei der Jewish Agency war ich einmal bei den Vereinten Nationen bei einer Sitzung, das Thema war die Staatsgründung Israels. Danach ging ich mit meinem damaligen Chef, das war der spätere israelische Außenminister Mosche Scharet, in das Zimmer, in dem die Delegierten saßen. Dort war ein UN-Botschafter, der sich sehr schlecht benommen hat, er führte sich auf wie ein Verrückter und schrie herum. Ich dachte mir, dass die Meinung dieses Mannes die Politik und damit die Welt beeinflusst. Solche Menschen können die Welt zerstören. Wenn ich ihn retten kann, dachte ich, dann kann ich auch andere retten. Das war der Auslöser für mich. 1960 schloss ich mein Studium an der Columbia University ab.
Du hattest später viele Künstler:innen als Patient:innen, warum?
Mein Mann Paul war Künstler und wir gaben Dinnerpartys. Ich hatte einige Patient:innen aus dem Showbusiness, die haben mich weiterempfohlen. Es stimmt übrigens nicht, dass ich Marilyn Monroe therapiert habe, hätte ich das, wäre sie vielleicht ja noch am Leben. Ich bin ihr aber ein paarmal begegnet. Sie war so ein trauriges Mädchen, sie wurde immer ausgenutzt. Niemand hat sie respektiert. Sie hat einmal zu mir gesagt: „Zum Glück bin ich jetzt ein Star, jetzt muss ich nicht mehr tun, was ich tun musste, als ich anfing.“ Sie meinte damit, was sich in den Büros der großen Filmbosse abspielte.
Du hast viel Gutes und viel Schlechtes erlebt und bist der positivste Mensch, den ich kenne. Hilft dir dein Glaube?
Schau, auch wenn dich kein Mensch liebt, weil der Mensch zu blöd ist, liebt dich der liebe Herrgott. Ich bin ein gläubiger Mensch, mein Vater war das nicht, aber meine Mutti schon, sie führte einen koscheren Haushalt. Sie ist einmal mit ein paar Stückerln Salami nach Hause gekommen und sagte zu mir: „Koste, das ist koscher!“ Und ich dachte mir, wenn diese gläubige Person mich anlügt und sagt, dass das koscher ist, dann ess ich das, um ihr eine Freude zu machen. Der Herrgott verzeiht und er ist da, genauso, wie morgen immer morgen ist. Und wenn du den Herrgott nicht immer sehen kannst, dann hab ein bisserl Geduld. Er hat ja auch Geduld mit uns. Das ist ein „mutual agreement“ und sehr praktisch! (Lacht.)
„Die GroSSmütter sind die wichtigsten Menschen für die Kinder. Weil sie die Liebe sind.„
Erika Freeman
ZUR PERSON
Erika Freeman wurde als Erika Polesiuk 1927 in Wien geboren (sie änderte den Namen später in den USA auf Padan). Ihre Mutter Rachel war Hebräisch-Lehrerin, ihr Vater Außenminister im Schattenkabinett der Sozialdemokraten. Er wurde nach der Machtergreifung der Nazis nach Theresienstadt deportiert, konnte flüchten und lebte später in Schweden. Nach dem Krieg kam es in New York zu einem Wiedersehen zwischen Vater und Tochter. 1940, zwei Jahre nach dem „Anschluss“, wurde Erika alleine nach Amerika geschickt, kam bei Verwandten unter und studierte. Sie wollte die Welt retten und beschloss, Psychoanalytikerin zu werden. In ihrer New Yorker Praxis lag bald die Prominenz auf der Couch, doch sie redet bis heute niemals über ihre Klient:innen. Freeman war mit dem Bildhauer und Maler Paul Freeman verheiratet, der 50-jährig verstarb. „Eine Frechheit“, wie sie sagt. Sie war Beraterin von Golda Meir und gehörte zu den ersten Mitgliedern des 1982 gegründeten International Women’s Forum, ein Netzwerk von Frauen in Toppositionen, die es damals nur vereinzelt gab. Die Feministin Betty Friedan war Freemans Freundin und Seelenverwandte. Im hohen Alter kam Erika Freeman über das Projekt „A Letter To The Stars“ wieder mit ihrer alten Heimat in Kontakt und setzt sich seither als Zeitzeugin wider das Vergessen ein.
Beitragsbild: SHE’S A LADY. Dr. Erika Freeman beim Shooting mit Fotografin Rafaela Pröll und look!-Herausgeberin Uschi Pöttler-Fellner. Styling von Wendy & Jim.